Der Traum beginnt: Rio Reiser in Ostberlin
9. November 1989. Jo Brauner moderiert die 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau. Aufmacher ist eine Meldung, die Geschichte schreibt. Doch schon lange vor dem Mauerfall brennt die Luft in Ostberlin. Auch bei Rio Reisers legendären Auftritten im Oktober 1988.
Die staatlich anerkannte und geförderte Jugendorganisation FDJ hat den Sänger der Band Ton Steine Scherben eingeladen. Nicht ohne Hintergedanken. Pfingsten 1987 zogen junge DDR-Bürger in Scharen zum Brandenburger Tor, um Songfetzen von David Bowie, den Eurythmics oder Genesis zu hören, die vom Reichstag hinüberwehten. Polizei und Stasi rückten mit Schlagstöcken und Hundestaffeln an, die Musikfans riefen nach Gorbatschow und Perestroika, skandierten „Die Mauer muss weg!“. Alles vor laufenden West-Kameras. Die prompte Weisung von oben: Wir brauchen mehr attraktive Rock-Konzerte.
Rio Reiser ist 1988 auf dem Höhepunkt seines Erfolges, der „König von Deutschland“ läuft im Radio, Ost wie West, rauf und runter. Am 1. Oktober drängen schon um 18 Uhr junge Männer und Frauen in die Werner-Seelenbinder-Halle in Ostberlin. Lutz Kerschowski, der später als Gitarrist in Rios Band spielt, heizt dem Publikum ein. Dann tritt der schmale Mann in Röhrenjeans und Sakko mit Schiebermütze auf dem Kopf aus den grünen Nebelschwaden heraus. Rio eröffnet den Abend mit „Alles Lüge“. Die Zuschauer, gewohnt zwischen den Zeilen zu lesen, sind begeistert. Rio spielt seine Solo-Hits und Songs seiner Band, die im Osten noch niemand gesehen hat. Er besingt den „Junimond“ mit geschlossenen Augen, die Haarsträhnen kleben im Gesicht, die Fans an seinen Lippen. Kurz vor Konzertende erzählt Rio in „Der Traum ist aus“ von einem Land mit freien Menschen.
„Gibt es ein Land auf der Erde,
wo der Traum Wirklichkeit ist?
Ich weiß es wirklich nicht.
Ich weiß nur eins und da bin ich sicher:
Dieses Land ist es nicht."
Rios Finger rasen über das Klavier, das Publikum schreit seinen Frust heraus, feiert Reiser, der sich mit Zugaben bedankt. Die Konzerte vom 1. und 2. Oktober 1988 werden aufgezeichnet und vom DDR-Jugendsender DT 64 ausgestrahlt. Allerdings: „Der Traum ist aus“ fehlt. Rio Reiser stirbt sieben Jahre nach dem Fall der Mauer. Im August 2022 wird der Berliner Heinrichplatz in Rio-Reiser-Platz umbenannt. Wir springen in das Overshirt , das Raum für Bewegung und Zwischentöne lässt, und ziehen die Schieberkappe vor dem König von Deutschland.